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Goethe-Editoren strafen England

„Gott strafe England“ – der englandfeindliche Schlachtruf aus dem Ersten Weltkrieg war Teil der Kriegspropaganda und ist mittlerweile zum Meme geworden. Schon vor über 100 Jahren fand er sich nicht nur auf Briefmarken, Schuldscheinen oder Postkarten, sondern auch an anderen unerwarteten Orten wieder.

Auch heute hält sich der Spruch hartnäckig, wie hier in Abwandlung im Oktober 2023 am Wuppertaler Hauptbahnhof.

„Gott strafe Die Deutsche Bahn“, Wuppertaler Hauptbahnhof, 27.10.23, Foto: SVK

Internetfund.


Dass „Gott strafe England“ im Internet zum Teil der Memekultur geworden ist und auf zahlreichen Internetseiten zu finden ist, verwundert nicht.

Verwunderung löste allerdings der Fund in einer historisch-kritischen Ausgabe, an einer eher unerwarteten Stelle, aus – nämlich im Register einer Goethe-Ausgabe. Vorab ein paar Gedanken zu Registern.

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Register über Register

Registerbände sind selten Bücher, die man zum Genuss aufschlägt. In ihnen wird nachgeschlagen, gesucht, gefunden. Wie bei allen technischen Neuerungen lösten auch Register zunächst Skepsis aus, beginnend im 15. Jahrhundert (vgl. Dennis Duncan: Index, A History of the: A Bookish Adventure from Medieval Manuscripts to the Digital Age. New York 2022, Kap. 1-2).

Auch zum Ende des 19. Jahrhunderts standen einige Kulturkritiker Registern, oder dem Umgang mit ihnen, kritisch gegenüber.

So teilte der Schweizer Carl Hilty (1833–1909) seine Argwohn mit:

„Andere Leute kenne ich aber auch, die n u r die Vorreden, oder gar nur die Register lesen und sich daher auch bitter beklagen, so oft kein solches vorhanden ist. Denn dann müssen sie ja das Buch selbst nachsehen, um es kritisieren zu können, woran ihnen oft ganz allein gelegen ist.“

Carl Hilty: Über das Lesen. In: Carl Hilty: Lesen und Reden. Leipzig: Frauenfeld 1895, S. 20.

Die Furcht vor einer gar zu oberflächlichen Lektüre eines Buches, ermöglicht durch den alinearen Zugang zum Text durch Register, wurde nicht selten geäußert.

Aber werden Register tatsächlich gelesen oder ist es nicht vielmehr so, dass sie aufgesucht, aufgeschlagen, durchforstet werden? Von einer linearen Lektüre kann bei Registern wohl kaum die Rede sein. Register werden benutzt, nicht gelesen.

Die Erstellung eines Registers bedeutet immer auch den vorläufigen Abschluss einer Einheit, eines Werks, einer Arbeit. Ein größerer Korpus an Text, an Informationen, wird erschlossen und durchsuchbar gemacht. Registern folgen, wenn überhaupt, nur noch Nachträge.

Ein ungewöhnlicher Registereintrag

Als die große Weimarer Goethe-Edition, die sogenannte Weimarer Ausgabe (WA), herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, sich dem Abschluss neigte, erschien – wie üblich – ein Registerband. Nun, da das gesamte gedruckte Werk übersehbar, verfügbar und referenzierbar war, wurde es registriert. Die Ausgabe lief von 1887 bis 1919, es erschienen 133 Bände in 143 Teilen in vier Abteilungen auf insgesamt rund 62.000 Seiten.

Die erste Abteilung, „Werke im engern Sinne“, erhielt 1916 und somit mitten im Ersten Weltkrieg mit dem 54. Band den ersten Teil eines Registers (A–L). Der zweite Teil erschien dann 1918.

In jenem ersten Teil finden sich unter dem Lemma „England“ am Ende des Eintrages statt Ziffern … Buchstaben.

Eintrag „England“, in: WA I, 54 (Register A–L), bearb. u.a. von Max Hecker. Weimar: Böhlaus Nachfolger 1916, S. 255–257, hier: S. 257.

Eintrag „England“, in: WA I, 54 (Register A–L), bearb. u.a. von Max Hecker. Weimar: Böhlaus Nachfolger 1916, S. 255–257, hier: S. 257 (Close Up).

Hier nun, in einem abschließenden Band der großen, ehrwürdigen Weimarer Ausgabe von 1916, findet sich das heutige Meme wieder, noch als Kampfruf, nicht etwa an Bahnhofspfeiler geklebt, sondern ins Register integriert.

Eine politische Botschaft, wie sie in historisch-kritischen Ausgaben, deren Anspruch u.a. ist, die Zeiten zu überdauern und das Werk für sich sprechen zu lassen, bislang unbekannt ist. (Falls ähnliche Fälle bekannt sind, bitte ich darum, sie mir mitzuteilen.)

Und so zeigt sich, dass auch eine Edition ihrer Zeit verhaftet ist und von der „Historizität des Gegenstandes“ (Kraft 1982, S. 11) zeugt, der sie selbst ist.

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Fun fact, auf den mich mein Bruder hinwies (danke an dieser Stelle, W.):

Durch den Schlachtruf zog das Verb „to strafe“ in die englische Sprache ein, laut PONS mit der Bedeutung: „etw[as] [im Tiefflug] unter Beschuss nehmen“. Mittlerweile wird so auch das seitliche Laufen in Ballerspielen genannt.

Sophia Krebs (svkrebs<at>gmx<punkt>de), 22.12.2023

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